Informationsethik: Über die Widersprüchlichkeit der Informationstechnologien

13 April 2007

Über die Widersprüchlichkeit der Informationstechnologien

Univ.Prof.i.R. an der TU Wien, Dr. Peter Fleissner hat anlässlich der Konferenz für Informationsethik in Pretoria von 5. - 7. Februar 2007 einen Vortrag über die Ambivalenz von ICT gehalten, den er uns zur Übersetzung ins Deutsche und zur Veröffentlichung in diesem Blog dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat.
[In eckigen Klammern wurden zum besseren Verständnis einige Begriffe von der Redaktion etwas ausführlicher dargestellt]

Über die Ambivalenz von ICT

Der Begriff Informationsgesellschaft bezeichnet das Leitbild einer auf Informations- und Kommunikationstechnologien basierenden Transformationsgesellschaft [einer Gesellschaft der gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozesse] und deren Ökonomie.

Der Prozess, durch den sich eine postindustrielle oder postmoderne Informationsgesellschaft bildet, wird als Informatisierung bezeichnet (Nora/Minc 1979; Wikipedia).

1948 schon prognostizierte der amerikanische Wissenschaftler Norbert Wiener die Entstehung einer Informationsgesellschaft und seither ist dieser Begriff als Vision
mit hohen Erwartungen verbunden.

Dieser Optimismus ist in der Geschichte nicht neu - wir können aufkommende Hoffnung auf grundlegende Veränderungen zum Besseren immer schon in der Geschichte beobachten, sobald sich neue Technologien entwickelten.

Napoleon glaubte, dass Chappe’s optischer Telegraph es ihm erlauben würde, ganz Europa zu erobern, indem dieser die Kontrolle und das Kommando der bewaffneten Kräfte in den Revolutionskriegen erleichterte.

Am Beginn des 20. Jahrhunderts führte Henry Fords Fließband-Massenanfertigung von Autos und ein differenziertes System der Kontrolle der Arbeiter weltweit zu ökonomischen Aufschwung.

1920 erwartete Lenin den Aufbau einer neuen Gesellschaft, der im Zusammenwirken von politischer Struktur mit neuer Technologie stattfinden sollte: „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“.

Heutzutage sehen multinationale Unternehmen neue Technologien als wirkungsvolle Instrumente für wirtschaftliche Macht und Kraft während die Organisationen der Zivilgesellschaft sich auch davon mehr Möglichkeiten der Einflussnahme erwarten.

Hauptcharakteristika in Begriffen der politischen Ökonomie

Fallende Transaktionskosten

[Zu diesem Begriff weiß Wikipedia wieder mehr: Zu den Transaktionskosten zählen

Informationsbeschaffungskosten (z. B. Informationssuche über potenzielle Transaktionspartner)
Anbahnungskosten (z. B. Kontaktaufnahme)
Vereinbarungskosten (z. B. Verhandlungen, Vertragsformulierung, Einigung)

Abwicklungskosten (z. B. Maklercourtage, Transportkosten)
Kontrollkosten (z. B. Einhaltung von Termin-, Qualitäts-, Mengen-, Preis- und Geheimhaltungsabsprachen, Abnahme der Lieferung)
Änderungskosten/Anpassungskosten (z. B. Termin-, Qualitäts-, Mengen- und Preisänderungen)

Konkreter versteht man unter Transaktionskosten Such-, Anbahnungs-, Informations-, Zurechnungs- Verhandlungs-, Entscheidungs-, Vereinbarungs-, Abwicklungs-, Absicherungs-, Durchsetzungs-, Kontroll-, Anpassungs- und Beendigungskosten.

Transaktionskosten entstehen z. B., wenn zwischen den an einer Transaktion beteiligten Personen Kommunikationsbedarf, Verständigungsprobleme, Missverständnisse oder Konflikte auftreten.

Zu den Transaktionskosten rechnet man nicht den Preis eines Gutes - soweit die reinen Produktionskosten betroffen sind.]

Die Höhe von Transaktionskosten kann das Zustandekommen von Transaktionen verhindern, wenn etwa die anfänglichen Informationskosten für einen potenziellen Käufer schon so hoch geraten, dass die Transaktion prohibitiv verteuert wird. Auch verhindert die Existenz von Transaktionskosten, dass Käufer oder Verkäufer das für sie günstigste Angebot finden, da die mit der Suche steigenden Transaktionskosten eventuelle Vorteile von weiteren Angeboten wieder aufwiegen (Lehre vom abnehmendem Grenzertrag).

Transaktionskosten wie etwa Zurechnungs- oder Messkosten können sogar die Existenz von Märkten für bestimmte Güter verhindern. Neue Informationsformen können diese Transaktionskosten senken (siehe: eBay, Wikipedia).

Die Kommodifikation – das zur Ware werden – von Informations-Gütern

Neue Bereiche von menschlichen Aktivitäten (Information, Kommunikation, Wissen und andere kulturelle Tätigkeiten) werden in den Markt integriert und von da an in Gebrauchsgüter verwandelt.

Ambivalente Wirkungen von fallenden Transaktionskosten

a) Die Produktion wird billiger und dadurch vielleicht auch interessanter

b) Neue Akteure und Organisatoren tauchen auf, während andere verschwinden mögen

>>>Neue Technologien können Individuen, Gruppen und Organisationen ermutigen, mit neuen Aktivitäten an die Öffentlichkeit zu gehen

>>>traditionell agierende Akteure werden aber auch unter Druck gesetzt, nachzuziehen
(z.B. Betreiber von alternativen Printmedien)

Gesellschaftliche Änderungen folgen aus Änderungen des Produktionssystems wie das klassische Beispiel im Buch von Williamson, O.E.: The economic institutions of capitalism. N.Y. 1987 zeigt:
Das Ende der “putting-out-systems” (die teilweise vorgefertigte Produkt wird von einem Vermittler ausgelagert und in Heimarbeit fertiggestellt) und der Beginn des “factory-systems“ (das Produkt wird in der Fabrik gefertigt ohne Zwischenhändler und Privatmanufakturen) im Frühkapitalismus in Großbritannien.

Welches sind nun die Mechanismen der Kommodifikation von Informationsgütern?

Wieder ist eine kleine Exkursion, diesmal zur Basis der politischen Ökonomie, notwendig:

Was ist eine Ware?

Eine Ware ist ein Produkt menschlicher Arbeit
(Seit Aristoteles bzw. Adam Smith und Karl Marx wissen wir, dass sie zwei essentielle Eigenschaften hat)

>>>Sie hat Gebrauchswert
Dinge oder Tätigkeiten bzw. Leistungen werden von jemandem benötigt

>>>Sie hat Tauschwert
Dinge und Tätigkeiten bzw. Leistungen haben Wert für andere, die dafür auf dem Markt bezahlen

Was ist mit Diensten / Leistungen?

Es gibt 2 Arten von Waren

- Materielle Produkte
Sie bestehen weiter, nachdem die Produktion abgeschlossen ist

- Dienstleistungen, menschliche Tätigkeiten
Sie verschwinden, nachdem sie produziert werden, im Augenblick der Konsumation

Das Problem mit den Dienstleistungen der Menschen: sie können nur einmal verkauft werden, sie sind flüchtig und können weder gespeichert noch akkumuliert werden

Ein großer Teil von Dienstleistungen besteht in der Form von Live Acts wie sprechen, singen, tanzen, schreiben, dichten, forschen, programmieren usw.
Diese Tätigkeiten repräsentieren reine Gebrauchswerte – nach ökonomischen Begriffen sind es Dienstleistungen. Viele menschliche Kulturleistungen sind dieser Art.

Die Rolle der digitalen Medien in der Informationsgesellschaft

Wie eine Zeitmaschine erlauben es die digitalen Medien, lebendige kulturelle Aktivitäten in großem Maßstab einzufrieren und sie in ein physisches Objekt zu verwandeln (Datenträger)

Durch diesen Vorgang erlauben sie, Gebrauchswerte von der flüchtigen Form in eine stabile materielle Form zu transformieren – gemeint sind die Datenträger DVD, CD-ROM, HardDisk, Memory Chip, USB Stick etc.

Aber die digitalen Technologien erlauben auch die billige Herstellung von Kopien dieser eingefrorenen Aktivitäten und sie erlauben die Verbreitung dieser Kopien unbegrenzt, weltweit, via Internet.

Auf Basis dieser Art der Produktion kann kein Markt etabliert werden und es kann kein Profit gemacht werden. Um das zu erzielen, wird eine andere Innovation benötigt.

Die Rolle des Rechts in der Informationsgesellschaft

Um die Etablierung von Märkten zu gewähren und um die Produktion vollwertiger marktfähiger Gebrauchsgüter aus flüchtigen Dienstleistungen zu ermöglichen, entwickelten die kapitalistischen Länder Instrumente – einerseits innerhalb der Gesetzgebung - andrerseits von adäquaten Technologien - um die unbegrenzten Möglichkeiten der Vervielfältigung unter Kontrolle zu bringen.
Die EU und die USA errichteten legale Instrumente gegen den zusammenbrechenden Kopierschutz.

Durch dieses Zusammenspiel von Technologie und rechtliche Regelungen werden Gebrauchswerte zuerst in digitale Datenträger verwandelt und anschließend durch den Kopierschutz zu vollwertigen Gütern mit Tauschwert gemacht.

Durch ID codes, Lizenzen, Schlüssel usw. wird jede Kopie individualisiert und kann genauso wie die traditionellen Güter verteilt und getauscht werden – ganz so als ob es sich um materielle Produkte handeln würde.

Ein globaler, weit umfassender Markt für digitale Datenträger wird etabliert, ebenso wie ein sekundärer Markt für die Technologien des Speicherns und wieder Abrufens und zur Verfügung Stellens – wie DVD player, MP3 player, iPods...

Folgen der Kommodifikation in der Informationsgesellschaft

In der Informationsgesellschaft werden durch diese Verwandlung flüchtiger menschlicher Tätigkeiten in Waren viele Bereiche von kulturellen Aktivitäten auf den Gebieten des Wissens, der Forschung, der Kunst, der Unterhaltung durch den Markt entdeckt. Sie alle haben einen Preis, der darauf hinzielt, Menschen vom „Konsum“ auszuschließen, die als zahlende Konsumenten nicht in Frage kommen

Kommodifikation von Informationsgütern erschafft künstlich deren Knappheit.

Im Großen und Ganzen bringt sie aber der Mehrheit der Menschen und den global agierenden Unternehmen Vorteile und führt zu einer Verbesserung der Qualität der Produkte.

Diese Entwicklung kann in Bezug auf Reichweite und Wichtigkeit mit der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England stattfindenden Kommodifikation der Arbeit verglichen werden – beschrieben von Karl Polanyi in seinem bekannten Buch „The great Transformation“ 1944.
Darin verbindet er die gesellschaftlichen und politischen Folgen der Wandlung von der kapitalistischen Wirtschaft zur kapitalistischen Gesellschaft und die Veränderung des Charakters der Arbeit.

Wachsender Widerstand

Während die traditionellen Klassenkämpfe sich auf die Widersprüche und Spannungen zwischen dem Kapitalisten und den Angehörigen der Arbeiterklasse bezogen, bezieht sich Widerstand in der Gegenwart gegen die gesellschaftlichen Implikationen der Globalisierung auf die Einschränkungen beim Erschaffen von kulturellen Äußerungen und dem Zugang dazu.
Es geht um die Frage von Verfügbarkeit und allgemeinem Zugang zu kulturellen Erzeugnissen, und diese Frage betrifft nicht nur die Produzenten, sondern auch Angehörige der Mittelklasse, Intellektuelle, Künstler und Angehörige der Oberschicht selbst.

Man kann wachsenden Widerstand in vielen Bereichen zur selben Zeit feststellen.
Sogar das Europäische Parlamen war äußerst zurückhaltend bei der Verabschiedung einer Direktive zu Patenten auf Software oder auf das menschliche Genom.
Freie Software, Open source, intellectual property rights (creative commons, GNU Lizenzen) sind die neuen Schlachtfelder für den Kampf um Aneignung der eigenen Kultur durch die Menschen

Aber es könnte mehr möglich sein ...

... und hier endet der erste Teil des Vortrages von Dr. Fleissner. Da vor allem dieser erste Teil für Bibliotheken wichtige Sachverhalte und Anregungen für Überlegungen enthält, haben wir darauf verzichtet, den zweiten Teil ausführlich zu übersetzen und darzustellen.

Weiter geht es darin mit der Beschreibung von globalen Vernetzungsaktivitäten, wie den TINs, Targeted Intellectual Networks - Zielgerichtete intelligente Netzwerke, die vor allem als NGOs in den Bereichen Sozialarbeit, Bildungsarbeit, Gesundheitsinformation, usw. tätig werden, um von der Basis her zu informieren und zu vermitteln, wie Selbst-Ermächtigung und Selbstbestimmung trainiert werden können. Diese Basisaktivitäten für die Überwindung von digitalen und kulturellen und sozialen divides werden anhand der "Bolivarischen Missionen" im Venezuela des Hugo Chavez beschrieben, wo sie nicht nur von den betroffenen Menschen ausgehen, sondern auch von oben jede Menge staatliche und politische Unterstützung erfahren - was wohl eine der wichtigen Bedingungen für ihr Funktionieren ist.

Auf der Homepage von Univ. Prof. Dr. Fleissner ist der Vortrag als Download im Original nachzulesen.

Übersetzung und Ergänzungen [in eckigen Klammern] von Eva Kumar