Informationsethik: 12/2010

07 Dezember 2010

Leben und Arbeiten 2.0

Anfangs gab es Wikipedia - mit bislang Millionen von Nutzern weltweit, in allen Sprachen - dann Facebook, Wikis, Blogs, Open Source Tools, Twitter, RSS-Feeds, ... die eine Parallelwelt zum Netz der Institutionen und Firmen bildeten. Die Parallelwelt scheint aber zur Hauptsache zu werden.

Man konnte sie eine Zeit lang als uninteressanten Nebeneffekt ignorieren und die Beteiligten als schrullige Nerds abtun, die mit der Zeit dazu erzogen werden konnten, sich an Regeln zu halten, die von einem sich heraus(zu)bildenden i-government, einer Welt-Internet-Regierung, erlassen werden würden -> s. a. Internet Governance Forum

Seit einiger Zeit lässt sich das Web 2.0 aber nicht mehr ignorieren und abtun, im Gegenteil: es ist im Mainstream angekommen. Überall bewegt sich praktisch jede/r darin. Kaum ist mehr die Rede von Sucht-, Gefahren- oder Krankheits-Potential für  Jugendliche, eher Fragen der Sicherheit und des Datenschutzes gelangen ins aktuelle Interesse. Die Frage, ob überhaupt jemand das Web 2.0 braucht, hat sich erledigt – selbstverständlich muss jede/r drin sein – die Frage ist nur, wie und in welchem Umfang.

Tim O’Reilly (1) hat 2005 im Vergleich zum Web 1.0 einige Beispiele für die Parallelwelt des Web 2.0 gegeben: What is Web 2.0

Web 1.0                                                    Web 2.0
DoubleClick                              -->       Google AdSense
Ofoto                                        -->       Flickr
Akamai                                     -->       BitTorrent
mp3.com                                  -->        Napster
Britannica Online                       -->       Wikipedia
personal websites                      -->        blogging
evite                                          -->        upcoming.org and EVDB
domain name speculation           -->        search engine optimization
page views                                -->        cost per click
screen scraping                         -->        web services
publishing                                 -->         participation
content management systems    -->         wikis
directories (taxonomy)              -->         tagging ("folksonomy")
stickiness                                  -->         syndication

und formulierte einige Prinzipien zum freien Arbeiten im Freien Netz:

• strategische Nutzung des Netzes als Plattform
• ich kontrolliere meine eigenen Daten als Basis und nutze die der anderen als Ressource
• Service-Pakete statt kommerzielle Software-Produkte
• Architektur der Partizipation - Nutzung der kollektiven Intelligenz
• kosteneffektive Skalierbarkeit der Programme (Erweiterbarkeit)
• Daten sind remixable! – also untereinander kombinierbare und transformierbare Quelldaten und Datenquellen
• einfache Bereitstellung von Daten aus verschiedenen Quellen durch Kommunikation von verschiedenen Programmen und Prozessen über http-Schnittstellen
• Integration aller mobilen Endgeräte (Handy, ...)
• einfache interaktive Benutzerführung

Das soziale Netz ist immersiv – seine Teilnehmer tauchen darin ein: es ist interaktiv, es ist emanzipatorisch, demokratisch. Der ungeschriebene Hauptsatz seiner Ethik ist

- Kompetenz und Eigen- Verantwortung versus Paternalismus –

nämlich die informelle (freier Zugang zu freien Inhalten), informationelle (was ich an Information freigebe) und kommunikative Selbstbestimmung.

Das Web 2.0 ist in der Bibliothek angekommen.

Aus dem „Archiv der Aufklärung“, von der der Hüterin und Wächterin, Zuteilerin von Wissen wird die Bibliothek selbst zum sozialen Netzwerk.

Das Berufsbild Bibliothekar_in ändert sich, sie/er wird Vermittler/in von Information, technischen Fertigkeiten, Bewerter_in von Information.

Die Bibliothek 2.0 ist nutzerorientiert und nutzerbetrieben.

Das Gefälle zwischen wissendem Bibliothekar zum suchenden und ratlosen, auf Hilfe angewiesenem Leser verschwindet, die Kommunikation ist egalitär, beide lernen voneinander und erarbeiten Fragen und Lösungen gemeinsam – es geht von der "read only" Kultur in die Richtung einer neuen "read/write" multimedialen Kultur des Austauschs und cultural remix (des Neu-Zusammenmischens, der Wiederaufbereitung).

Das Soziale Web ist die neue Öffentlichkeit

Öffentlichkeit kann gesehen werden als Umschlagplatz gesellschaftlicher Erfahrung (nach Negt), im Vergleich zu Gegenöffentlichkeit (Spehr )(2), als zu schaffender Raum demokratischer Kommunikationsbedingungen (Habermas) (3) oder als von Medien erzeugter Raum (Luhmann) ( 4).

Sie spiegelt / verfälscht jedenfalls bestehende Machtverhältnisse und unterliegt historischem Wandel.

Was die "public sphere" in der Gegenwart ausmacht, wie sie funktioniert, ist jedenfalls höchst vielfältig:
Die neue vernetzte "public sphere" wird modelliert, designed: ..."sie ist aber nicht aus bestimmten Werkzeugen gemacht, sondern entsteht durch soziale Praktiken, die durch diese Werkzeuge ermöglicht werden" (Benkler 2006) ( 5)

Die neue Kultur ist konnexionistisch – sie funktioniert wie ein neurales Netzwerk mit flachen Verzweigungen und Schnittstellen, sie hat eine offene dynamische Struktur – d.h. sie verändert sich laufend, indem sie sich entwickelt und Inhalte und Prozesse integriert.

Die Teilnehmer_innen sind prinzipiell gleich – sie haben die selben Chancen und selbst, wenn sie sich sehr passiv oder spezialisiert verhalten, haben ihre wenigen Meldungen doch noch mehr Chance von denen wahrgenommen zu werden, die genau in den Raster der Spezialisierung fallen – als außerhalb des Netzwerks. (s. long tail – short tail distribution)

Die neuen Held_innen dieser Kultur sind mobil, polyvalent, flexibel, globalisiert, wach, aufmerksam, multi-tasking, schnell reagierend.

Ebenso wie der Begriff Öffentlichkeit sich neu definiert, erlebt auch der Begriff der Persönlichkeit, "Charakter", "Ich" im Social Web neue Dimensionen von "Identitätsmanagement" - Ich-findungen, Ich-konstruktionen, modeling und design in lebenslangen Prozessen der Identitätspolitik. Man managt Ich-Projekte und betreibt Beziehungsmanagement – schafft sich seine persönliche Öffentlichkeit -
es entstehen also nicht nur viele fragmentierte Öffentlichkeiten, sondern auch mehrere Aspekte einer Identität, mehrere Ichs eines "Akteurs" oder users – je nachdem in welchem Fragment des Web 2.0 oder des realen Lebens sich der Mensch betätigt.

ARBEIT 2.0

Es ist nicht lange her, vielleicht 30, 40 Jahre, dass Arbeit in festen, meist lebenslangen Arbeitsverhältnissen stattgefunden hat. Wohl entfremdet durch arbeitsteilige Organisation, hierarchisch geordnet – als Preis für soziale Sicherheit, Kontinuität, Vorhersehbarkeit und garantierte Freiräume im Privaten.

Die neue Arbeit findet innerhalb der elektronischen Dienstleistungsgesellschaft, Wissensgesellschaft, Informationsgesellschaft statt – jedenfalls haben sich die wirtschaftlichen Aspekte der Industrie-Gesellschaften von der Produktion weg auf Dienstleistungen und deren Vermittlung verlagert.

Unternehmen und Institutionen entdecken die Vorteile des Social Web, das ab nun gar nicht mehr so sozial erscheint, für sich.
Interne Netze also interaktive Intranets entstehen bzw. werden installiert und sollen die Kommunikation erleichtern, die kollektive Intelligenz akkumulieren, Spielwiese für Ideen und Spaß am Arbeitsplatz sein und - vielleicht - ganz nebenbei zusätzliche Mitarbeiter-Informationen liefern.

Die Bibliothek, seit den Zeiten der Aufklärung dem öffentlichen Raum zugerechnet, als Wirtschaftsfaktor bisher eher nur Kostenverursacher, wird nun wirtschaftlicher Akteur: sie hat zu verwertende (digitalisierbare und zu vervielfältigende) Produkte anzubieten, so wie sie auch Anbieter von Dienstleistungen wird – und zugleich Objekt und Subjekt ist in Bezug auf Information und Kommunikation:

• als Objekt des Verlangens nach Informationsträgern bzw. NutzerInnen-Daten
• als Nutzerin und Erfinderin bzw. Mitentwicklerin von Suchmaschinen und Data mining ("Knowledge Discovery in Databases“)
• als Subjekt wird sie Internet-Provider – Anbieterin digitaler Objekte und Dienste, Verwerterin von Inhalten oder technischen Leistungen, die für die Nutzung oder den Betrieb von Inhalten und Diensten im Internet erforderlich sind
• überwachendes Subjekt ist sie durch die Entlehnsysteme, Mediensicherung, Videoüberwachung, Filtern von Websites, …

Die grundlegende Änderung des Berufsbildes der Bibliothekar_innen hat innerhalb der letzten 20 Jahre stattgefunden. Sie geht schnell vor sich, ist tiefgreifend und lässt keine Wahl. Schon gar nicht Zeit und Kompetenzerarbeitung, um die Änderungen kritisch mitzuvollziehen bzw. Einfluss zu nehmen.

Kein Wunder, dass die Beglückung durch immer wieder neue Tools und Software-Versionen, die die letzten Freiräume persönlicher Wahlmöglichkeiten am Arbeitsplatz noch mehr einschränken, enden wollend ist.

Die jeweiligen Intranets in Bibliotheken, die das Bedürfnis sowohl nach interner Kommunikation als auch privater Neben-Betätigung in sozialen Netzen auffangen und befriedigen sollen, wird trotz einiger gepriesener Eigenschaften des Web 2.0 nicht in dem Ausmaß freudig begrüßt und genutzt, wie vorgesehen.

Es gibt da einige Punkte, die dabei eine Rolle spielen:

Ein Content Management System CMS, das samt Installation und Service gekauft wird, verlangt eine Ausschreibung mit Eckpunkten, die in der Realität wohl eher vom Auftraggeber als von den Mitarbeiter_innen bestimmt werden. Wer bezahlt, bestimmt, und über Nutzungs-Modalitäten und Bedürfnisse wird spekuliert, ohne die Betroffenen einzubeziehen

Das System wird also etabliert, es gibt Einschulungen und Aufforderungen an die Mitarbeiter, das Intranet und seine Angebote interaktiv zu nutzen. Vielleicht verschwinden auch die Instrumente der internen Kommunikation, die bisher in Gebrauch waren.

Das Intranet wird demnach als vorgegeben, als verordnet erlebt und die wesentlichen Eigenschaften des Web 2.0, die die Teilnahme so interessant machen – Egalität in der Kommunikation, Eigenverantwortung, Selbstkompetenz – werden hier vermisst. Noch vielmehr, wenn die Nutzung mit Barrieren wie Zugangscodes, hierarchischen Berechtigungspyramiden und der Notwendigkeit aufwendiger Schulungen verbunden ist und gemessen am Zeit und Energie-Aufwand wenig Benefit (für die Nutzer_innen) zu erkennen ist.

Vielen Dank den Vortragenden der Brainpoolkurse
"Recherche im Web 2.0" – Mark Buzinkay - am 9.11.2010
und
"Aktuelle Fragen der Informationsethik" – Fritz Betz - am 22.11.2010

(1) sehr aktiver Softwareentwickler im Bereich freier Software und maßgeblich an der Entwicklung der Skriptsprache Perl beteiligt. 1975 schloss er sein Studium der Klassischen Altertumswissenschaften mit summa cum laude an der Harvard University ab. O’Reilly ist ebenfalls Autor mehrerer Bücher, die er in seinem eigenen Verlag vertreibt. Mit seinem Artikel über das Web 2.0 trug er maßgeblich zur Popularisierung dieses Schlagwortes bei (Zitat: Wikipedia)

(2) Gegenöffentlichkeit entsteht, wo die festgesetzten, ungeschriebenen oder faktischen Regeln herrschender Öffentlichkeit überschritten werden, um sagbar zu machen, was in der herrschenden Öffentlichkeit nicht sagbar ist, oder was dort >durch die Form ..., was die Verwendbarkeit betrifft, neutralisiert< ist (Brecht 1926, 20) – Christoph Spehr: Entwicklung und Bedeutung des Begriffs "Gegenöffentlichkeit"

(3) Um die kritische Funktion von Öffentlichkeit in der Gegenwart wieder herzustellen, müssen „die in der politischen Öffentlichkeit agierenden Mächte dem demokratischen Öffentlichkeitsgebot effektiv unterworfen werden“ (Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 339–342.)

(4) Dabei versteht Luhmann Öffentlichkeit weiter als selbstreferentielles System mit "Spiegelfunktion". Die öffentliche Meinung ist ein Spiegel, bei dem es darum geht, zu beobachten, wie der Beobachter selbst und andere in der Öffentlichkeit abgebildet werden. (Kontexte)

(5) "The Wealth of Networks - How Social Production Transforms Markets and Freedom" - Yochai Benkler