Informationsethik: „Man sagt, Bibliotheken sind langweilig und Bibliothekare auch” ...

20 Oktober 2007

„Man sagt, Bibliotheken sind langweilig und Bibliothekare auch” ...

World Library and Information Congress: 73rd IFLA General Conference and Council
"Libraries for the future: Progress, Development and Partnerships"
19-23 August 2007, Durban, South Africa


So beginnt Richter Albie Sachs (Photo: mit Gen. von Adam Welz), eine der beeindruckendsten Personen des neuen Südafrika und einer der großen Bürgerrechtskämpfer des 20. Jahrhunderts, seine Rede bei der Eröffnung der WLIC Konferenz am 19. August 2007 im Großen Saal des Tagungsortes, dem Konferenzzentrum ICC von Durban.

Er erzählt von seinem Zugang zu Büchern und davon wie eine Bibliothek ihm half, geistig gesund zu bleiben, als er aufgrund des „90 day law“ ohne Anklage, ohne Prozess, ohne Kontakt zu Anwälten oder sonst jemandem sich monatelang in Einzelhaft befand.

Die Isolationshaft ist so schlimm, da sich außen keine Anhaltspunkte mehr finden, zu denen sich die Person in Beziehung setzen kann: Realität, Persönlichkeit und Identität gehen verloren. Die Reizdeprivation führt zur Orientierungslosigkeit, das eigene Gedächtnis ist der einzige Ort der Zuflucht.

Albie Sachs begann, sich das Alphabet aufzusagen, sich Lieder vorzusingen, die mit den Buchstaben des Alphabets begannen: A Always ..., B Because ... usw. schwierig mit dem X, also nahm er „Deep in the heart of Texas“. Er schuf aus dem romantischen Lied von Irving Berlin „Always“ ein Lied, mit dem er die Einsamkeit einer südafrikanischen Gefängniszelle bekämpfte und singt es jetzt wieder vor:
“I’ll be living here, always/ Year after year, always/ In this little cell that I know so well/ I’ll be living swell, always, always./ I’ll be staying in, always/ Keeping up my chin, always/ Not for but an hour/ not for but a week/ not for 90 days, but always.”

Und es begann nur mit dem 90-day-law, das nächste Mal war es das 180-day-law und eigentlich wollte man unliebsame Leute für immer in Einzelhaft und Isolationsfolter halten.
Albie Sachs sprach und das 5000 TeilnehmerInnen große Publikum im riesigen Saal war so still, dass man eine Nadel fallen hören hätte können.

Er sprach weiter davon, wie er versuchte, zu rekonstruieren und zu erinnern, zu katalogisieren, was er von der Welt draußen im Gedächtnis hatte, vom Versuch die Welt im Geist neu zu konstruieren. Das einzige Buch, das ihm erlaubt wurde, war die Bibel. Er las sie immer wieder, nicht zu schnell, damit er nicht zu bald wieder am Ende war. Er hat sich Listen ausgedacht von Büchern, die er lesen wollte und eines Tages kam es tatsächlich so weit, dass er Bücher in seine Zelle bekommen durfte. Seine Wächter besorgten, was immer davon sie wollten oder was davon möglich war zu erhalten, in einer kleinen öffentlichen Bibliothek, nicht weit vom Gefängnis. Er beschreibt die Rettung, die ihm durch Bücher geschehen ist, wie den Rettungsanker, der einem zugeworfen wird, wenn man aus dem Boot gefallen ist. Und dann bedankt er sich beim unbekannten Bibliothekar - in seiner Vorstellung war es aber immer eine Bibliothekarin - die ihn damals mit dem lebensnotwendigen Lesestoff versorgt hat, vielleicht ahnend, was das für ihn bedeutet hat.

Er vergleicht das sichere Schwimmen um das Boot mit dem sicheren Arbeiten innerhalb der Bibliothekstraditionen von täglicher Arbeit und Ausbildung, und das sich etwas weiter vom Boot weg wagen – dorthin wo es die wirklich interessanten Dinge zu erfahren gibt – mit der Konferenz in Südafrika, wo man nie gesehene Dinge zu sehen und erfahren bekommt.
In Afrika haben z.B. manche Bibliotheken 2 Beine – der Schatz ihres Wissens, aus Tradition und Erfahrung geht mit ihnen verloren, wenn man nicht Wege findet, es zu retten.

In den Zeiten der Apartheid wurde die tatsächliche Geschichte vor allem mündlich weitergegeben, Geschriebenes war immer auch Spur zurück zum Urheber – einerseits -und andrerseits konnte man dem in den Medien verbreitetem Wort nicht trauen.

Das Aufbewahren und Erinnern ist lebenswichtig und Bibliotheken sind Orte der Zuflucht und der Freiheit des Geistes. Da geht es um Bücher und anderes geschriebenes, aber immer mehr auch um das Internet – die unsichtbare virtuelle Bibliothek der Welt.

Albie Sachs, dem Juristen und Richter, der am Aufbau des südafrikanischen Rechtssystems maßgeblich beteiligt war, geht es natürlich vor allem um die größte Rechtsbibliothek der südlichen Hemisphäre: der Bibliothek des Verfassungsgerichtshofes in Johannesburg.

In repressiven Systemen sollen die Menschen am besten von außen nichts über ihre Rechte erfahren, sie bekommen Lüge und Propaganda aber sie sollen keinen Zugang zum geschriebenen Wort haben. Die Juristen Sachs und Mandela wissen am besten aus ihrer Erfahrung mit der Apartheid, wie leicht es ist, Gesetze zu verdrehen, zu verfälschen und verschwinden zu lassen. Die Hüter des Rechts verfügen über eine Art Geheimwissen und niemand kann je genau wissen, worauf es beruht. Deshalb die Bedeutung dieser großen Gesetzesbibliothek als Gebäude, das den Kampf und die Befreiung repräsentiert.
Das physische Gebäude ist wichtig und dass seine Räume für alle zugänglich sind – in der Bibliothek führen Rampen, die man auch im Rollstuhl fahren kann, zu offenen Regalen, in denen die Bücher, die Akten, die Gesetzesblätter aller afrikanischen Länder, geordnet nach einem verständlichen System, zur Verfügung stehn. Man kann sich frei bewegen, frei assoziieren, reisen ... innerhalb der Bibliothek.

Die Bibliothek ist ein wesentlicher Teil des Constitutional Court. Das Gebäude steht auf dem Gelände des alten Gefängnisses, Fort Prison, und es ist aus Material des ehemaligen Gefängnisses erbaut. Es ist aber etwas vollkommen neues und verkörpert in seiner Architektur die Freiheit des Geistes und würdigt den Kampf um seine Befreiung. Es besteht zu einem Teil aus den Steinen und Balken des Gefängnisses und das bedeutet, dass die Leiden der Gefangenen nie verloren gehen, aber es ist wie ein Phoenix aus der Asche ganz etwas neues, anderes geworden. Weiter Raum, Licht und Luft, Klarheit und Schönheit sind seine Elemente und trotzdem erdrückt das Gebäude nicht die alten Gefängnistrakte, die es noch umringen und die als Museum erhalten werden.

Südafrika hat ein neues Rechtssystem aufbauen müssen und Mandela und seine Regierungsbeauftragten holten Informationen aus der ganzen Welt, verglichen Gesetze von überall und sind in regem Austausch mit Richtern und Rechtsforschern aus aller Welt.

Auch Dr. Alex Byrne, der designierte IFLA Präsident spricht über Gandhis Kampf für die Menschenrechte, der in Südafrika begonnen hat – als er, eingeladen von Geschäftsfreunden seines Vaters, als Berater in einer Rechts-Angelegenheit aus Indien nach Pretoria, Südafrika zu kommen, - mit einem Ticket erster Klasse im Zug in Pietermaritzburg den Platz wechseln musste, in die 3. Klasse des Zuges, die den Farbigen zugewiesen wurde. Da er sich weigerte, wurde er aus dem Zug geworfen. Sein Kampf, der hier in Südafrika seinen Anfang nahm, beeinflusste auch die anderen Bürgerrechtsbewegungen, verkörpert von Martin Luther King oder Nelson Mandela.

Zentrale Basis und Ziel dieser Freiheits- und Bürgerrechtsbewegungen mit ihren Kämpfen für Wahrheit und Gerechtigkeit durch Mittel der Gewaltlosigkeit ist die Freiheit des Wortes und des Ausdrucks, der freie Zugang zu Information für alle.

Die IFLA ist sich der Verantwortung und Solidarität mit den KollegInnen über den ganzen Globus hin bewusst. Die Organisation unterstützt sie im täglichen Kampf für Entwicklung, Informationsvermittlung, Vermittlung von Fähigkeiten zur Aneignung der Information und Entwicklung von Strukturen, die es Bibliotheken erlauben, Wissen und kulturelles Erbe zu konservieren, und Orte der sozialen Entwicklung zu sein.
Überall tritt die IFLA für die Freiheit des Ausdrucks, den Zugang zu Information und Wissen ein, – und Alex Byrne macht das auch an Orten klar, wo diese Rechte gefährdet und verfolgt werden, wie z.B. im Juni in Kuba, um den Bibliotheken und Bibliothekaren Rückhalt und Anteil der KollegInnen und der Organisation zu vermitteln.

Bei dieser Konferenz in Durban werden vor allem die Aspekte der Entwicklung, der Zukunft und der weltweiten Partnerschaften betont und die Tatsache, dass die TeilnehmerInnen aus afrikanischen Ländern diesmal die Hälfte der Delegierten und SprecherInnen ausmachten, mit großer Freude begrüßt.

Solidarität innerhalb der IFLA fand ihren Ausdruck in der Unterstützung australischer KollegInnen, die das Geld aufbrachten, um afrikanischen KollegInnen die Teilnahme am Kongress zu ermöglichen – und ihnen damit Gelegenheit für Treffen mit den KollegInnen, Austausch und vielleicht resultierender Partnerschaften zu ermöglichen.

Pallo Jordan, Südafrikas Minister für Kunst und Kultur, auch einer aus der alten Kämpfergeneration, spricht über die Entwicklung einer Informationsgesellschaft, die frei, fair und gerecht für alle ist und darüber dass die Verantwortung dafür vor allem bei den Bibliotheken liegt. Bücher sind Augenöffner, Begleiter, Geschichtenerzähler. Ideen für eine bessere Zukunft sind das einzige, was vorerst da ist – sie in die Realität umzusetzen, bedeutet Arbeit - und dafür brauchen Bibliotheken Unterstützung, Solidarität, Partnerschaft Ermutigung und Ermächtigung.
Er beschrieb seinen Zugang zu Büchern, die lebensrettende Wirkung von Bibliotheken, die er erfuhr, als er aufgrund des „90 day law“ ohne Anklage, ohne Prozess, ohne Kontakt zu Anwälten oder sonst jemandem sich monatelang in Einzelhaft befand. (Photo Quelle: www.passia.org)

Gcina Mhlope, die “Mutter der Bücher“, ist in Südafrika gut bekannt als Freiheitskämpferin, Aktivistin, Schauspielerin, Geschichtenerzählerin, Autorin – und sie führte durch die Zeremonie! Es ist eine außerordentliche Erfahrung, diese charismatische Persönlichkeit in ihrem Element zu erleben: Geschichten erzählend und zum Lesen animierend und die Liebe und Begeisterung zu fühlen, mit der sie die letzte Ecke des riesengroßen Saales und die Herzen der Zuschauer und Zuhörer füllt.

„May the heartbeat of Africa echo in your soul...“ sagt sie und eines ist sicher: Afrika wird nie mehr aus unserer Seele verschwinden.


Photo: Sally Blackman